In westlichen Gesellschaften dient(e) die Auseinandersetzung mit sexueller Arbeit vielfach dazu, Sexualität und Sexualverhalten zu normieren. In Anlehnung daran fungieren in meiner Dissertation kommerzielle Sexualität und sexueller Tausch als Linse, um gesellschaftliche Normierungsprozesse zu beleuchten, die sich in den ersten beiden Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg vollzogen. Die ersten beiden Nachkriegsjahrzehnte waren von der Reorganisation der Geschlechterordnung und der Sexualmoral sowie politischer und wirtschaftlicher Entwicklungen geprägt und stellen damit einen idealen Untersuchungszeitraum dar.
Die Dissertation ist dabei anhand von drei Untersuchungsebenen – der Ebene der Regulierung, der Erfahrung sowie des Diskurses – strukturiert: Anhand einer verwaltungs- und rechtshistorischen Untersuchungsebene untersuche ich erstens, ob und wie sich in der Nachkriegszeit die Regulierung der heterosexuellen, von Frauen angebotenen kommerziellen Sexualität sowie polizeiliche und fürsorgerische Maßnahmen entwickelten. In den ersten beiden Nachkriegsjahrzehnten war das Verkaufen sexueller Dienstleistungen geduldet und durch verschiedene Gesetze reglementiert, die sich fast ausschließlich an Frauen wandten. Frauen, die auf legalem Weg sexuelle Dienstleistungen anbieten und verkaufen wollten, mussten sich bei der Polizei registrieren, regelmäßig untersuchen lassen und mehrere Auflagen beachten, wobei verheiratete Frauen von dieser Regelung ausgeschlossen waren. Zweitens frage ich, anhand einer lebensgeschichtlichen Frageperspektive, inwiefern ich die verfügbaren Quellen nützen kann, um die Agency, die Erfahrung und die Perspektive von Frauen, die von diesen Gesetzen betroffen waren, aufzuzeigen. In einem dritten Schritt analysiere ich, inwiefern Diskurse über kommerzielle Sexualität, Sexualmoral, Geschlechterrollen und Familienideale im Untersuchungszeitraum verknüpft und von diskursivem Wandel geprägt waren.
Die Arbeit stützt sich auf einen umfangreiche Quellenkorpus, der mehrheitlich aus bisher unbearbeiteten Quellen besteht. Archivalische Quellen wie Gerichtsakten, Zeitungsberichte, Pressematerialien, Dokumente von Polizei- und Fürsorgebehörden sowie aus privaten Nachlässen, darunter Vortragsmanuskripte und Egodokumente, werden dabei anhand mikro- und diskurshistorischer Methoden ausgewertet.
Insbesondere durch den Fokus auf die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts wird die Dissertation
einen wichtigen Beitrag zur österreichischen Sexualitäten-, Geschlechter- und Prostitutionsgeschichte leisten. Neben der differenzierten theoretischen Perspektive auf kommerzielle Sexualität wird sie aufgrund der Analyse von bisher kaum erforschten Archivquellen zum historischen Verständnis der Geschlechterverhältnisse und Sexualitätsdiskurse in den österreichischen Nachkriegsjahrzehnten beitragen.
e-Mail: nora.lehner@univie.ac.at
Institut für Wirtschafts- und Sozialgeschichte
Betreuungsteam: Franz X. Eder, Johanna Gehmacher