Gleichgeschlechtliche Sexualität wurde in Europa bis ins späte 20. Jahrhundert strafrechtlich verfolgt. Die historische Forschung hat sich bereits eingehend mit der Homosexuellenverfolgung durch das NS-Regime auseinandergesetzt und charakterisiert diese einhellig als die intensivste und grausamste Verfolgung von vor allem männlicher Homosexualität in Europa im 19. und 20. Jahrhundert. Die Jahrzehnte vor und insbesondere nach der NS-Zeit wurden noch kaum untersucht, was besonders mit Blick auf Österreich, wo anders als im Großteil der europäischen Staaten auch weibliche Homosexualität kriminalisiert wurde, ein Desiderat der internationalen Forschung darstellt.
Die für die strafrechtliche Verfolgung gleichgeschlechtlicher Sexualität in Österreich relevante Gesetzesstelle war in ihrem Wortlaut unbestimmt und unverändert wie auch durchgehend in Kraft von 1852 bis 1971 (§ 129 Ib StG: „Unzucht wider die Natur mit Personen desselben Geschlechts“). Dennoch wurden bereits teils drastische Veränderungen in der Spruchpraxis der Gerichte etwa beim Regimewechsel 1938 festgestellt durch die Forschung. Es ist daher das Ziel dieses Dissertationsvorhabens, die gerichtliche Praxis der Strafverfolgung, die auf Grundlage dieser Gesetzesstelle stattfand, im gesamten 20. Jahrhundert anhand von 195 Akten zu Strafprozessen aus Wien, Oberösterreich, Steiermark und Tirol nach Kontinuitäten und Brüchen im Verlauf von fünf aufeinanderfolgenden politischen Systemen zu untersuchen, um Veränderungen im Verständnis der Gerichte davon, was „gleichgeschlechtliche Unzucht“ eigentlich ist, festzustellen.
Im Fokus der Untersuchung liegen nicht sexuelle Handlungen zwischen Menschen, sondern die Praxis der staatlichen Sanktionierung einer bestimmten Kategorie sexueller Handlungen. Diese Praxis wird in Anlehnung an Pierre Bourdieus Analyse des juristischen Feldes als komplexer sozialer Vorgang verstanden, der die „unzüchtige“ Handlung und das „unzüchtige“ Subjekt erst benennt. Dieser Vorgang der Benennung wird daher in seinem komplexen sozialen Kontext nach einem auf Bourdieu zurückgehenden praxeologischen Ansatz, und auf Grundlage des vor Gericht stattgefundenen Verhandelns über das Lustempfinden – ein subjektives Tatbestandsmerkmal der „Unzucht wider die Natur mit Personen desselben Geschlechts“ – mittels diskursanalytischer Methoden (emotional turn) untersucht.
Dieser kombinierte Ansatz ermöglicht es, das komplexe Konstrukt staatlich reglementierter Sexualität in seiner mehrdimensionalen sozialen Vernetzung zu erfassen und bestimmte Veränderungen in der sexuellen Kultur Österreichs im 20. Jahrhundert festzustellen.
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