Dissertations

Betwixt and Between. Eine ethnologische Studie zur Lebenssituation nicht abschiebbarer Geflüchteter.

Sarah Nimführ, Dipl.-Päd. MA

Seit Anfang der 1990er Jahre etablierte sich in Europa, und damit im europäischen Grenzregime, die Abschiebung als bevorzugtes Instrument zur Migrationssteuerung. In den vergangenen Jahren ließ sich allerdings eine deutliche Diskrepanz zwischen den erteilten Abschiebungsbescheiden und den tatsächlichen Rückführungen feststellen. In Malta ist die Mehrheit abgelehnter Asylsuchender aufgrund verschiedener rechtlicher und praktischer Faktoren nicht abschiebbar. Nicht abschiebbare Geflüchtete befinden sich dadurch in einer rechtlichen Grauzone: Sie gelten nicht als offizielle Mitglieder des Aufnahmestaates, können nicht abgeschoben werden und den Inselstaat Malta nicht selbstständig und geregelt verlassen. Ein Aufenthaltsstatus bleibt meist verwehrt. In dieser Situation haben sie über mehrere Jahre nur begrenzten oder keinen Zugang zu Beschäftigung, grundlegenden Dienstleistungen und medizinischer Versorgung. Als kleinster Staat der EU beruft sich Malta auf seine begrenzten Ressourcen: eine Inklusion scheint nicht erwünscht und aussichtslos. Der Faktor „Inselstaat“ führt des Weiteren dazu, dass die Weitermigration von Geflüchteten sehr eingeschränkt ist.

In meiner Dissertation untersuche ich am Beispiel Maltas die Auswirkungen der Nicht-Abschiebung auf die Lebenssituation der betroffenen Geflüchteten. Aus einer mikroanalytischen Perspektive gehe ich der Frage nach, wie sich das Leben von Geflüchteten mit einem nicht durchgeführten Abschiebungsbescheid an der EU-Außengrenze Malta gestaltet. Wie wird das Leben im Dazwischen verhandelt? Welche Interaktionen formen und bestimmen die Zukunft und Lebensläufe der ‚Unerwünschten’? Welche Handlungsstrategien wenden sie im Spannungsfeld zwischen Autonomie und Fremdbestimmung an? Und welche Rolle spielt „die Insel“ für Im-/Mobilität?
Zwischen Februar 2015 und August 2016 führte ich im Rahmen von fünf Feldforschungsaufenthalten in Malta und (Süd-)Italien eine ethnografische Untersuchung durch. Bei der Durchführung griff ich auf die theoretischen und methodologischen Überlegungen der Ethnographischen Grenzregimeanalyse zurück. Durch den Einbezug einer Vielzahl von Akteur*innen und Diskursen in die Forschung wurde das Zustandekommen der Grenze und des Grenzalltags eruiert. Das Konzept des Grenzregimes diente als analytisches Werkzeug, um unterschiedliche Akteur*innen zu erfassen, deren Praktiken miteinander verknüpft sind und die zusammen die Bedingungen und Formen des Lebens der Geflüchteten gestalten.

Die Verschränkungen der strukturell-rechtlichen (Lebens-)Bedingungen mit den subjektiven Perspektiven und individuellen Handlungsspielräumen der Migrationsakteur*innen werden in meiner Arbeit sichtbar gemacht. Mein wissenschaftliches Interesse richtet sich insofern sowohl auf die Handlungsmacht der Geflüchteten als auch auf die Regulierungsinstitutionen der Migration.
Mit meiner Dissertation verfolge ich das Ziel eine ethnologische Forschung zu unterstützen, die selbstreflexiv und machtkritisch in das Wissensfeld Migration hineinwirkt. Meine empirischen Ergebnisse und methodisch gewonnenen Erkenntnisse können dabei im Sinne einer kritischen Gesellschaftsforschung gegenwärtigen Politiken eine reflexive Perspektive entgegensetzen und politische Zusammenhänge dekonstruieren. Insbesondere eine Beschreibung des Alltags, des „Normalen“, von Geflüchteten in prekären Lebenssituationen, kann dazu beitragen, ein möglichst breites Verständnis für die Komplexität, Vielschichtigkeit und auch Machtförmigkeit von Realitäten der Migration zu schaffen.

e-Mail: sarah.nimfuehr@univie.ac.at
Institut für Europäische Ethnologie